Vor 150 Jahren wollte König Wilhelm I. von Preußen zurücktreten. War der moderne preußisch-deutsche Militarismus vermeidbar?
Dierk Walter
Veröffentlicht am: 
25. April 2024

Der preußische Verfassungskonflikt im September 1862: Das preußische Parlament weigerte sich standhaft, den Militärhaushalt ohne wenigstens symbolische Zugeständnisse der Regierung zu verabschieden. Für Wilhelm I., den zweiten preußischen Soldatenkönig, war diese Weigerung Landesverrat. Die Regierung fühlte sich an die Verfassung gebunden; Militärs hingegen rieten zum Staatsstreich. Am 22. September 1862 traf der preußische Gesandte Bismarck, zurückberufen aus Paris, in Schloss Babelsberg ein. Wilhelm I. empfing ihn mit einer unterschriftsreifen Abdankungsurkunde in der Hand.

Parlamentsherrschaft oder Königsherrschaft schien die Devise. Aber für Wilhelm I. war die Sache persönlicher; ihm ging es um den Kern der so genannten Kommandogewalt, der direkten monarchischen Verfügung über die Armee auch im Verfassungsstaat. Als Berufssoldat auf dem Thron1 – er war als jüngerer Bruder Friedrich Wilhelms IV. für die Armee, nicht für die Krone erzogen worden – war ihm die Letztverantwortlichkeit für das Militär in die Seele geschrieben. Bevor er davon Abstriche machen musste, wollte er lieber zugunsten seines Sohnes Friedrich Wilhelm abdanken.

Es gelang Bismarck, den König davon zu überzeugen, dass es eine weitere Alternative gab – die Verfassung weder zu brechen noch vor der liberalen Parlamentsmehrheit einzuknicken; das Ergebnis ist als die sogenannte Lückentheorie bekannt: „Des Königs Regierung muss fortgeführt werden“ wenn sich die Verfassungsfaktoren gegenseitig blockieren. Vier Jahren budgetlosem Regime in konservativer Reinterpretation der Verfassung folgte 1866 nach dem Sieg über Österreich die so genannte Indemnität, mit der die Regierung von der Verantwortung für die temporäre faktische Aushebelung (aber eben nicht Aufhebung) der Verfassung freigesprochen wurde.

Damit allerdings blieb die Frage der letzten Macht über die Armee im preußischen Verfassungsstaat unentschieden, und die Reichsgründung, die maßgeblich ein Resultat der Berufung Bismarcks war, hat dieses Konstrukt beibehalten. Die oft beklagten Folgen des preußisch-deutschen Militarismus, dessen Kernproblem die praktisch unangreifbare extrakonstitutionelle Position des Militärs im Verfassungsgebäude war: Sie gehen nach weithin anerkannter Auffassung vor allem auf die Weichenstellung des Septembers 1862 zurück.

Hätte es anders ausgehen können, wenn Bismarck etwa seinen Zug verpasst hätte? Emil Ludwig hätte dazu sicher Ja gesagt. Schon die Vorstellung, dass der Hundertagekaiser keinen Kehlkopfkrebs gehabt haben und nach dem Tod seines Vaters 1888 einige Jahrzehnte hätte regieren können, veranlasste Ludwig einst in einem kontrafaktischen Gedankenspiel zu Fantasien der Liberalisierung des Kaiserreichs und der Verhinderung des Ersten Weltkrieges.2 Wieviel dramatischer hätte eine Thronbesteigung des liberal angehauchten und mit dem Militär wesentlich weniger intim als Wilhelm I. verbundenen Kronprinzen im Jahre 1862 – als er jung und bei Kräften war – die Geschichte verändern müssen? Mit der Berufung Bismarcks, so hätte Ludwig wohl geschlussfolgert, wäre auch gleich die Reichsgründung verhindert worden. Weitergesponnen, und in Extrapolation von Ludwigs Denken, wäre Preußen friedlich parlamentarisiert worden. Alle Irrwege des jüngeren deutschen „Sonderweges“ wären der Welt erspart geblieben, von der sozialen Militarisierung des Kaiserreichs über die Kriegserklärung 1914 bis zu Ludendorff und natürlich Hitler.

An dieser schönen Träumerei sind aber ernsthafte Zweifel angebracht. Zum ersten: Das Problem Wilhelms I. mit der parlamentarischen Krise war ein grundsätzlich konstitutionelles – Kommandogewalt –, nicht hingegen ein materielles: Die Heeresvermehrung von 1859/60, um die es anfänglich ging, und die, fälschlich mit dem Namen Albrecht von Roons verknüpft, in Wahrheit bis im Detail ein Werk des Monarchen war – diese Heeresvermehrung war 1862 längst irreversible Tatsache. Preußen hatte nun unwiderruflich ein großmachtfähiges Heer von fast doppelter Stärke als vorher. Undenkbar, dass dieses Instrument einer aggressiven Außenpolitik ungenutzt geblieben wäre, wenn man nämlich – zweitens – in Erwägung zieht, dass Friedrich Wilhelm, als Kaiser nachmals Friedrich III. (als König Friedrich Wilhelm wäre er der V. gewesen) wohl mit dem Liberalismus, aber eben auch mit der Nationalbewegung sympathisierte. Über das grundsätzliche Ziel der preußischen Politik, in Deutschland Eroberungen nicht nur moralisch zu machen, sondern notfalls auch militärisch, war er sich mit den Liberalen ebenso einig wie mit seinem Vater, dem er zusätzlich noch einen deutlichen Mangel an dessen eher engstirnig-altpreußischen Legitimismus voraus hatte. Wie lange hätte es gedauert, bis Friedrich Wilhelm V. auf dieselbe Schiene eingeschwenkt wäre, auf die Bismarck zusteuerte? Wenn auch vermutlich mit etwas mehr Skrupeln und weniger Geschick, die Richtung hätte ähnlich sein können.

Vor allem aber, und drittens: Das preußische Militär war alles andere als politisch desinteressiert, lammfromm verfassungstreu, dem Kriegsherrn bedingungslos hörig. Im Gegenteil, die Armee hatte eine ausgesprochen konsistente Geschichte des Politik Machens, und zwar stets im Sinne des preußischen Militärstaats, der Einheit von Monarch, Adel, Offizierskorps und Staat. Zuletzt in der Revolution von 1848/49 hatte die preußische Generalität nicht gezögert, dem König dieses Interesse unzweifelhaft und mit nahezu erpresserischem Tenor zu kommunizieren, und während der Verfassungskrise sorgten Kriegsminister Roon und Generaladjutant Edwin von Manteuffel mit Verweisen auf die Stimmung in der Armee dafür, dass Wilhelm I. bei der Stange blieb. Im preußischen Militärstaat war jederzeit klar: Sollte ein Monarch Abstriche an der Kommandogewalt zulassen, so stand das Offizierkorps bereit, plus royaliste que le roi zu sein.

Diesem Machtfaktor die Stirn zu bieten, fiel schon dem recht sturen Vater Wilhelm I. schwer, der immerhin unbestritten der praktische und ideelle Führer der Armee war. Wie lange hätte das preußische Offizierskorps, hätten zumal die politischen Generale um Roon und Manteuffel, zugesehen, wenn der eher profillose junge Kronprinz das politische System liberalisiert und die Kommandogewalt über die Armee an das Parlament ausgeliefert hätte? Nicht lange, wenn es ihm denn überhaupt eingefallen wäre, denn immerhin war auch Prinz Friedrich Wilhelm als Soldat sozialisiert. Man glaubt nicht, dass er das Rückgrat gehabt hätte, es zum Konflikt mit den Generalen kommen zu lassen, den schon sein Vater scheute. Und wenn: Der Putsch, den 1848 der damalige Prinz von Preußen, nachmals Wilhelm I., gegen den damaligen König, Friedrich Wilhelm IV., in Erwägung gezogen hatte, er war in Preußen jedenfalls denkbar und praktisch – mit der Verfügung über die Armee – auch möglich.

Man wird also ernsthaft zweifeln dürfen, ob der 22. September 1862 ein derart dramatischer (potentieller) Wendepunkt der deutschen Geschichte war, wie die Extrapolation von Emil Ludwigs Vision einer Friedensherrschaft Friedrich III. selbst noch ab 1888 nahelegt. Die Struktur des preußischen Militärstaates und die Persönlichkeit des Kronprinzen legen eher nahe, dass ein kontrafaktisches Preußen ohne Wilhelm I. und Bismarck einen ganz ähnlichen Kurs eingeschlagen hätte wie das reale. Ob der Ausgang derselbe gewesen wäre, ist hingegen eher fraglich. Ohne das skrupellose Kalkül Bismarcks und mit dem eher wankelmütigen Kronprinzen an der Spitze hätte man vielleicht mit dem neuen Säbel – der verstärkten Armee – gerasselt, um am Ende mit ungeschickter Diplomatie trotzdem ein zweites Olmütz zu erleiden. Weiter wagt man als Historiker nicht ernsthaft zu prognostizieren. Aber ein schnell und nachhaltig liberalisiertes und politisch und sozial demilitarisiertes Preußen stand 1862 nicht ernsthaft auf der Agenda.

  • 1. Dierk Walter, Der Berufssoldat auf dem Thron. Wilhelm I. (1797-1888), in: Stig Förster/Markus Pöhlmann/Dierk Walter (Hg.), Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Portraits, München 2006, S. 217-233.
  • 2. Emil Ludwig, If the Emperor Frederick Had not Had Cancer, in: J. C. Squire (Hg.), If It Had Happened Otherwise. Lapses into Imaginary History, London 1932, S. 233-248.
Epochen: 
Regionen: