Wissenschaftliche Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V. In Zusammenarbeit mit den Professuren Europa im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit / Medienpsychologie an der TU Chemnitz, 26.-28. November 2015
Roland Leikauf
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
30. Mai 2016

 

"Computerspiele sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen" – mit diesem einleitenden Satz fasste die Tagungsankündigung eine Tatsache zusammen, die in vielen Wissenschaftsdisziplinen noch nicht ausreichend rezipiert worden ist. Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: Im Jahr 2014 spielten 39,6 Millionen Deutsche regelmäßig oder gelegentlich Computerspiele, der Altersdurchschnitt lag bei 34,5 Jahren, wobei die Nutzer über 40 die größte Gruppe ausmachten. Die Geschlechterverteilung war und ist seit langem nahezu ausgeglichen, und 2014 wurden allein in Deutschland 2,7 Milliarden Euro mit digitalen Spielen umgesetzt.1 Ein großer, kaum quantifizierbarer Teil dieser Spiele benutzt historische Hintergründe als zentralen Fokus oder als Einzelaspekt für die eigenen Narrative und Spielmechaniken. Kriegerische Konflikte aller Zeitalter werden in diesem Zusammenhang immer wieder aufgegriffen.

Die Eignung des Themas für eine militärhistorische Tagung wurde aber durch einen weiteren Punkt gestärkt: Computerspiele sind, so Steffen Bender, heute virtuelle Erinnerungsorte. Damit ist nicht die auf den Nationalcharakter fokussierte Konzeption Pierre Noras gemeint, sondern schlicht die Idee, dass Spiel bzw. Spielhandlung ähnlich wie die Erinnerungsorte Noras "Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität" sind.2 Durch sie eröffnen sich neue Bereiche, in denen Geschichtsinformationen auf spielerisch-interaktive Weise angeboten werden. Mit Interaktion ist dabei nicht nur die aktive Rolle des Spielers im Spielgeschehen gemeint, sondern auch der Austausch der Nutzer untereinander und mit den Spielentwicklern, was im Lauf der Tagung mehrfach angesprochen wurde.

Die vier Abschnitte der Tagung waren "Militärgeschichte im Computerspiel: Theorie und allgemeine Zugänge", "Authentizität und Informationen: Entwickler und Spieler im Dialog", "Militärgeschichte im Computerspiel: Vom Altertum zum 20. Jahrhundert" und "Gewalt, Gegenwart und Gewaltverzicht". Die Tagungsbeiträge waren in ihren Ansätzen und Fragestellungen gemischt, bei den Spielbeispielen dominierten jedoch (heute marktuntypisch) eindeutig Strategiespiele, wohl auch, weil in diesem Genre geschichtliche Hintergründe besonders oft eingesetzt werden.

Aus den Vorträgen und Diskussionen entstand schnell eine ganze Reihe von Fragen, die in unterschiedlicher Form während der Tagung immer wieder gestellt wurden. Die erste fragte nach dem Inhalt des Begriffs der (speziell historischen) Authentizität und dem Ausmaß, in dem dieser sich auf Computerspielnarrative überhaupt anwenden ließ. Um diese Frage zu beantworten war es notwendig, zwischen belegbarer Authentizität (basierend auf historischen Fakten) und sinnlicher Authentizität (vermittelt durch visuelle und narrative Eigenschaften) zu unterscheiden. Spiele benutzen eine Kombination aus "tatsächlicher" und "gefühlter" Wahrhaftigkeit, um durch Bild, Text, Ton, Filmsequenz und Musik historische Inhalte eindringlich zu vermitteln. Authentizität im Spiel wäre dann, so ein Beitrag, eine atmosphärische Qualität, zu der faktische Authentizität zwar beiträgt, aber für die sie nicht entscheidend ist.

Als zweiter Diskussionspunkt folgte hieraus die Frage, wie intensiv Geschichtsbilder durch Computerspiele vermittelt werden. Anhand von qualitativen Spielerbeobachtungen und -befragungen konnte die Hypothese aufgestellt werden, dass historische Hintergründe nicht nur passiv eingebunden, sondern aktiv thematisiert und von manchen Spielergruppen auch verlangt werden. Das Interesse an historischen Zusammenhängen wirkt bei manchen Spielern über das Spiel hinaus weiter. Passive Rezeption und aktive Auseinandersetzung führt so zu einer "Erinnerungskultur 2.0", die in diesem wie in anderen digitalen Medien performativ entsteht und aufrechterhalten wird.3

Die Frage, wie effektiv Computerspiele innerhalb solcher Erinnerungskulturen tatsächlich zur Prägung von Geschichtsbildern beitragen, konnte im Zuge der Tagung allerdings nicht geklärt werden. Die dafür notwendigen quantitativen Untersuchungen seien, so der Konsens der Tagungsteilnehmer, noch nicht im ausreichenden Maße vorhanden und im disziplinären Rahmen der Geschichtswissenschaft möglicherweise auch gar nicht zu erbringen. Erleben und Verarbeiten der Spielerfahrung blieben somit eine black box, für deren Ausleuchtung den Teilnehmern eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig erschien. Von Entwicklerseite wurde die Frage danach, ob die in Computerspielen eingesetzten historischen Szenarien auch historische Inhalte vermitteln sollen, häufig bejaht. Nur bei sehr wenigen Spielen scheint dieses Ziel allerdings im Zentrum zu stehen. Die qualitativen Ergebnisse der anwesenden Historiker (häufig basierend auf Spielerbeobachtungen und –befragungen) zeigten aber, dass historische Hintergründe von den Spielern sehr häufig thematisiert und von manchen Spielergruppen auch aktiv eingefordert werden. Das Interesse an historischen Zusammenhängen wirke, so eine Aussage, bei manchen Spielern eindeutig über das Spiel hinaus weiter.

Historische Fakten können dabei auf zwei radikal unterschiedliche Weisen eingesetzt werden, um positive Reaktionen bei den Spielern hervorzubringen. Auf der einen Seite scheint die Möglichkeit, die Geschichte zu beherrschen und zu verändern (agency), also kontrafaktische "Was-wäre-wenn"-Szenarien zu ermöglichen, für manche Unterhaltungsprodukte eine wichtige Voraussetzung für einen befriedigenden Spielablauf zu sein. Auf der anderen Seite wurden aber viele Beispiele gezeigt, die diese Freiheiten durch eine noch intensivere Einbettung der Ereignisse in eine umfangreiche Detailfaktizität ersetzen. Wenn in diesen Fällen also die Szenarien immer wieder einen ähnlichen Ablauf und einen festgelegten Ausgang haben, ist das ihrem Erfolg nicht abträglich, solange sie dem geschichtsinteressierten Spieler ein hohes Maß an "Nacherlebbarkeit" historischer Ereignisse ermöglichen.

Wieso ist Geschichte und geschichtliche Authentizität aber überhaupt eine Eigenschaft von Computerspielen, die unter Spielern, Entwicklern und Wissenschaftlern von großem Interesse ist? Auf Seiten der Entwickler ließe sich anführen, dass es für viele Spiele ein Alleinstellungsmerkmal in einem unübersichtlichen Markt ist, historische Inhalte zu integrieren und als möglichst realitätsnah darzustellen. Das Interesse unter den anwesenden Wissenschaftlern wurde hingegen darauf zurückgeführt, dass gerade Militärhistoriker Authentizitätskonzepte als Teil ihres ureigenen Kompetenzgebiets ansehen. Auf Seiten der Spieler scheint es unter bestimmten Gruppen großes Interesse an historischen Inhalten zu geben, als Erklärung für die Bedeutung von Spielen des Massenmarktes reicht dies jedoch nicht aus. Vielmehr scheinen, so ein wichtiges Ergebnis, historische Fakten ein Garant erzählerischer Geborgenheit zu sein. Das Handeln der Spieler wird aufgewertet, indem es in historische Zusammenhänge eingebettet wird und die Wertigkeit des Spielerlebnisses erhöht.

Das wichtigste Ergebnis der Tagung muss aber lauten, dass mit den (nicht nur historischen) Computerspielen ein großes Forschungsfeld betreten wurde, das mit konsequenter Forschungsarbeit weiterhin erschlossen werden muss. Die Frage, die im Laufe der Tagung gestellt wurde, ob und aus welchem Grund sich die Geschichtswissenschaft mit diesem Thema beschäftigen sollte, kann auf zwei Ebenen beantwortet werden. Auf der einen Seite bieten Computerspiele wie andere mediale Quellen einen intensiven Zugang zu den kulturellen Zusammenhängen ihrer Entstehungszeit. Das Interesse der Geschichtswissenschaft muss über diesen klassischen Quelleneinsatz allerdings hinausgehen. Wenn ein massenhaft zugängliches Unterhaltungsprodukt Geschichtsinformationen an sein Publikum vermittelt, ist es ihre Aufgabe, sich mit diesen Vermittlungsleistungen auseinanderzusetzen. Diese Dualität zwischen Quelle und Ausganspunkt von Geschichtsvermittlung ist in der Mediengeschichte nichts Ungewöhnliches. Bestes Beispiel dafür sind ebene jene Denkmäler und Gedenkstätten, die Pierre Nora in seinem Buch "Zwischen Geschichte und Gedächtnis" erforscht hat. Seinem Antagonismus zwischen Geschichtswissenschaft und Gedächtnis ("Die Zerrüttung des Gedächtnisses unter dem erdrückenden und entwurzelndem Zugriff der Geschichte…") muss man nicht folgen.4 Es ist aber notwendig diese mediale Verankerung historischer Inhalte in Medien zu rezipieren und für die Geschichtswissenschaft nutzbar zu machen.

Link zum Tagungsprogramm

  • 1. Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware: Gesamtmarkt digitale Spiele, URL: http://www.biu-online.de/de/fakten/marktzahlen-2014/gesamtmarkt-digitale-spiele.html, Stand: 8.12.2015.
  • 2. Etienne François: Pierre Nora und die "Lieux de mémoire", in: Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, Beck: München 2005, S. 7–14, hier S. 9.
  • 3. Vgl. Erik Meyer (Hg.): Erinnerungskultur 2.0: kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Campus-Verlag: Frankfurt am Main 2009.
  • 4. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16), Fischer Taschenbuch-Verlag: Frankfurt am Main 1990, S. 12.
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