Erster Teil der Reihe "Forschung zum Kalten Krieg - eine Bestandsaufnahme"
Klaas Voß
Interview
Veröffentlicht am: 
13. Juni 2016
Schwerpunktherausgeber: 

Der Kalte Krieg war ein globaler Konflikt. So überrascht es kaum, dass überall auf der Welt zum Thema gearbeitet wird. Die Interviewreihe Forschung zum Kalten Krieg - eine Bestandsaufnahme misst die Genese der Forschung gestern und heute ebenso aus, wie sie nach zukünftigen Entwicklungen fragt. Die siebenteilige Reihe ist eine Kooperation des Berliner Kollegs Kalter Krieg und des Portals Militärgeschichte. Sie wurde von Dr. Christoph Nübel (Humboldt-Universität zu Berlin) und Dr. Klaas Voß (Hamburger Institut für Sozialforschung) durchgeführt.

Diesmal im Interview: Prof. Dr. Bernd Greiner, Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg und Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung (Berlin/Hamburg, Deutschland).

 

Abschnitt I: Zur Herkunft und Entwicklung der Kalte-Kriegs-Forschung

F: "Erleben wir gerade einen neuen Kalten Krieg?" – Wie oft ist Ihnen diese Frage in den letzten Monaten gestellt worden?

A: Bei Interviews mit Journalisten so gut wie jedes Mal, in akademischen Kontexten oft. Und die Antwort, dass wir eben keine Wiederauflage des Vergangenen erleben, sondern uns mit anders definierten Konflikten konfrontiert sehen, wurde ebenso regelmäßig mit einer gewissen Enttäuschung quittiert. Man könnte fast den Eindruck haben, als übte das bloße Reden über den Kalten Krieg eine flirrende Faszination aus. Der Flirt mit dem Schrecken scheint attraktiv, Spannung, Ungewissheit, Drama sind als Zutaten historischen Erzählens offenbar unverzichtbar. Der Kalte Krieg hat bekanntlich Vieles im Angebot – das Wandeln am Rande des Abgrunds, das Zündeln mit dem Unbeherrschbaren, aber auch das Wissen, dass die Feuerwehr gleich um die Ecke parkt und die Geschichte zu einem guten Ende findet. Politisches und historisches Urteilsvermögen sehen anders aus. Aber in einer von diffusen Ängsten und Affekten überwucherten Zeit ist der nüchterne Blick wenig gefragt.

F: Wie Sie selbst an anderer Stelle geschrieben haben, sind die Cold War Studies als eigenes Forschungsfeld in den 1990er Jahren mit dem Versprechen angetreten, Forschung zum Kalten Krieg aus dem "normativen und intellektuellen Korsett ihres Gegenstandes" zu befreien. Ist das aus heutiger Sicht gelungen?

A: Durchaus. Die schier endlosen Debatten, wer die Hauptschuld am Ausbruch des Kalten Krieges trägt oder aus welchen Gründen die überlegene Sache vertritt, gehören der Vergangenheit an. Ab und an ist noch ein fernes Echo zu hören, etwa in Gestalt der Mahnung, Ost und West nicht aus der "Äquidistanz" zu betrachten, sprich die unterschiedlichen Werte und Normen zwischen liberaler Demokratie und Parteiendiktatur bei der historischen Analyse nicht aus dem Blick zu verlieren. Aber diese Rede ist nur noch kraftloses Gemurmel. Spätestens nach 1989 wurde deutlich, dass die moralische Überhöhung der einen oder anderen Seite und die damit einhergehende Selbstimmunisierung gegen Kritik in der Geschichtswissenschaft keinen Ort mehr haben. Im Gegenteil: Sie werden als Bestandteile des ehemaligen Kampfes um die richtige Weltanschauung selbst historisiert. Daran ändert auch die nicht zuletzt in den USA ausgeprägte Neigung zur triumphalistischen Interpretation des Vergangenen nichts. Ebenso wichtig ist der analytische Perspektivwechsel: Der Kalte Krieg wird längst nicht mehr nur auf der nördlichen Halbkugel oder an den Grenzlinien hegemonialer Machtzonen verortet. Der so genannte "Global South", die Dritte Welt, spielt eine ebenso wichtige Rolle – und zwar nicht als Spielball und Verhandlungsmasse der Hegemonialmächte, sondern als Repräsentanz eigenständiger Akteure. Schließlich und endlich wurde die einseitige Fixierung auf Militärs und Diplomaten überwunden. Das ist kein prinzipieller Einwand gegen Militär- und Diplomatiegeschichte. Im Gegenteil – wer sie vernachlässigt, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Aber zur historischen Selbstreflexivität eines Kollektivs gehört eben auch, den Kalten Krieg als Gesellschaftsgeschichte zu verstehen und danach zu fragen, wie dieser weltpolitische Antagonismus sich auf Wirtschaft, Wissenschaft und Alltag der Beteiligten auswirkte. Dieser Ansatz hat sich mittlerweile durchgesetzt.

F: Was waren die wichtigsten Trends und Entwicklungen in der Forschung zum Kalten Krieg seit 1990? Welche neuen Bereiche konnten in den letzten 25 Jahren erschlossen werden?

A: Wie gesagt: Die Thematisierung des Kalten Krieges als Gesellschaftsgeschichte, als alle Lebensbereiche erfassende, wenn nicht durchdringende Entwicklung, war ein wesentlicher Durchbruch. Besonders wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang die stärkere Berücksichtigung wirtschafts- und wissenschaftshistorischer Ansätze – und die Rezeption von Methoden und Fragestellungen aus der Kultur- und Emotionsgeschichte. Letzteres war überfällig, weil von der Sache selbst diktiert. Denn im Kern war der Kalte Krieg ein weltweit ausgefochtener Kampf um "hearts and minds", um affektive Zuneigung und intellektuellen Zuspruch. Dass aus diesem Grund die Mobilisierung von Emotionen zum politischen Kerngeschäft gehörte, liegt auf der Hand. Andererseits wurden überbordende Emotionen immer wieder gedämpft, teils aus innenpolitischen Interessen an Kontrolle und Steuerung, teils mit außenpolitischem Kalkül, wenn es galt, deeskalierende Signale an die Gegenseite zu schicken. Viele diesbezüglichen Forschungen stecken noch in den Anfängen, aber der "point of no return" ist meines Erachtens längst überschritten. Die "Cold War Studies" sind nicht nur auf der historiographischen Höhe ihrer Zeit, mitunter gehen von ihr auch neue Impulse aus, nicht zuletzt in der vernetzten Betrachtung von Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.

 

Abschnitt II: Der Status Quo

F: Wie sehr wird die aktuelle Forschung zum Kalten Krieg von den jüngeren "Turns" in den Geisteswissenschaften beeinflusst? Gibt es eine Kulturalisierung der Cold War Studies? Welche Rolle spielen Begriffe wie "Raum", "Emotionen", "Transnationalismus", "Aushandlungsprozesse" usw.?

A: Die angesprochenen "Turns" haben ihre Spuren hinterlassen. Wie sollte es anders sein? Und das heißt, dass mitunter auch über das Ziel hinausgeschossen wird. Der Hang zum Etikettieren und zur inhaltslosen Überdehnung illustriert diesen Trend. Mit Etikettieren meine ich, wenn der Begriff des "Transnationalen" dazu herhalten muss, Altbekanntes kategorial aufzumöbeln und der Beschäftigung mit basalen zwischenstaatlichen Beziehungen eine höhere intellektuelle Weihe zukommen zu lassen. Und inhaltsleer wird es erst recht, sobald alles und jedes als "Aushandlungsprozess" beschrieben wird, einschließlich der heißen Kriege im Kalten Krieg. Aber derartige Überzeichnungen sollte man auch nicht überbewerten. Gerade die Debatte über "Raum" oder "Transnationalität" verspricht viel innovatives Potential – vorausgesetzt, das sachliche Interesse steht im Mittelpunkt und nicht das Karrieremanagement oder die Selbstpositionierung der Beteiligten. Grundsätzlich ist darauf zu achten, dass im Windschatten der "cultural turns" nicht jene Faktoren aus dem Blick geraten, die zur Grundausstattung internationaler Politik im Allgemeinen und des Kalten Krieges im Besonderen gehören: Macht, Einfluss, Durchsetzungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit und mit ihnen Politik, Militär, Diplomatie und Recht.

F: Wo liegen mit Blick auf Akteure und Weltregionen die inhaltlichen Schwerpunkte der aktuellen Forschung?

A: Zu den wesentlichen Fortschritten gehört die Entrümpelung des Akteursbegriffs. Oder dessen Erweiterung. Wer die Dynamik, Brüche und Wendungen des Kalten Krieges verstehen will, darf nicht allein auf staatliche Akteure achten. Auf anderen Ebenen wurde ebenfalls Politik gemacht – und zwar mit handfesten Konsequenzen. Gemeint sind Nichtregierungs-Organisationen, die über Länder- und Blockgrenzen hinweg Kontakte knüpften, oder Wissenschaftler, die von ideologischen Trennlinien nichts wissen wollten und grenzüberschreitend Kontakte knüpften, oder Industrielle, die unter dem Radar der großen Politik agierten und auf ihre Weise zur Vertrauensbildung zwischen ideologisch zerstrittenen Lagern beitrugen. Die Liste ließe sich um Kirchenvertreter, Umweltgruppen, Juristen oder Menschenrechtsaktivisten mühelos erweitern. Gerade in Zeiten zugespitzter Konfrontationen traten sie ein um das andere Mal als "Entgifter" in Erscheinung. Zu einem nuancierten Akteursbild hat aber auch die verstärkte Beachtung von mittleren und kleinen Staaten beigetragen – innerhalb wie außerhalb der Bündnissysteme. Dementsprechend rücken Reibungen und Konflikte im Warschauer Pakt und innerhalb der NATO in den Blick, aber auch die Versuche von Regionalmächten, einen eigenständigen Weg zu gehen. Die intensive Beschäftigung mit den sogenannten "Blockfreien" hat wesentlich zur Entmythologisierung dieser Bewegung beigetragen. Noch ertragreicher scheint mir die Bilanz der "wag-the-dog"-Politik, nämlich der Nachweis, dass vermeintlich "Kleine" ein um das andere Mal die angeblich "Großen" gegeneinander ausspielten oder regelrecht erpressten. Allerdings gibt es noch immer Lücken und Defizite. Bezüglich der "Dritten Welt" ist das Interesse an Asien besonders ausgeprägt, auch Afrika findet verstärkt Beachtung, während Lateinamerika auf merkwürdige Weise wissenschaftlich randständig bleibt – was wohl auch damit zu tun hat, dass es dort so gut wie keine eigenständigen Forschungen zum Kalten Krieg gibt.

F: Wo stehen deutsche Universitäten und Institute mit Blick auf die internationale Forschung zum Kalten Krieg? Gibt es Unterschiede oder Nachholbedarf?

A: Der Nachholbedarf ist immens, im Grunde kann die deutsche universitäre Forschung zum Kalten Krieg international nach wie vor nicht mithalten. Was auch immer die Gründe dafür sein mögen – nicht allein in den USA und Großbritannien, auch in Italien ist man weit voraus, China investiert mehr Ressourcen, in Ostmitteleuropa scheint das Interesse zunehmend größer. Hierzulande geht es im Wesentlichen immer noch darum, Impulse aus dem angelsächsischen Raum aufzugreifen.  Außeruniversitär sieht die Bilanz besser aus, hier zahlen sich seit 1990 aufgelegte Projekte aus: beim Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, beim Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, bei der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg oder beim Hamburger Institut für Sozialforschung. Aufs Ganze gesehen gibt es aber Grund zum vorsichtigen Optimismus, und sei es auch nur, weil das Thema von Studenten und Medien vermehrt nachgefragt wird. Darüber hinaus wird sich die zeithistorische Forschung auf absehbare Zeit mit den 1970er und 1980er Jahren beschäftigen – einer Phase also, die ohne die Dynamik des Kalten Krieges schlicht nicht zu begreifen ist.

 

Abschnitt III: Zukunftsperspektiven

F: Besteht im Kontext der jüngeren Forschungsentwicklung die Gefahr, dass der Kalte Krieg zunehmend zum "Catch-All-Term" wird, also als attraktives Label für alles benutzt wird, was zeithistorisch als relevant und interessant gilt?

A: Derlei Irrungen und Wirrungen sind selbstverständlich nicht auszuschließen. Aber eine sich ihrer selbst bewusste Forschung wird kaum in diese Falle laufen, sondern sich vielmehr am Wesentlichen abarbeiten – an der Frage nämlich, welche Entwicklungen wegen des Kalten Krieges zu Buche schlugen, welche sich nur während dieser Zeit abspielten und wo die Schnittmengen lagen. Denken Sie etwa an das riesige Thema der wirtschaftlichen Globalisierung oder weltumspannenden Modernisierung. Zweifellos hätten sich diese Impulse auch ohne den Kalten Krieg durchgesetzt. Die Pointe liegt in der Markierung der Schnittstellen, jener Punkte, an denen sich unterschiedliche Dynamiken kreuzten und für Richtungsänderungen sorgten – oder auch nicht.

F: Falls es eine "Kulturalisierung" der Cold War Studies gibt: Ist diese mit einem Verkümmern der klassischen Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte des Kalten Krieges verbunden? In welchen (neuen?) Formen ließen sich diese Forschungsfelder in Zukunft revitalisieren?

A: Ohne den Trend zur "Kulturalisierung" kleinzureden, kann von einem Abdanken der "klassischen Themenfelder" keine Rede sein. Allerdings wären beispielsweise Militärhistoriker gut beraten, kulturwissenschaftliche Impulse auch für die Analyse des Kalten Krieges aufzugreifen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist schlicht grotesk, dass die letzte umfassende Studie über "defense intellectuals", über die akademischen Impulsgeber und Multiplikatoren von Atomkriegsszenarien also, gut dreißig Jahre zurückliegt, nämlich die Studie von Fred Kaplan zu den "Wizards of Armageddon". Statt die eingefahrene Rede vom "militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplex" wie eine Litanei zu pflegen, sollten hier dringend neue Akzente gesetzt werden. Gleiches gilt für den Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure zur großen Politik – die beratende Rolle von "Gegenexperten" aus Bürgerbewegungen ist längst noch nicht erforscht. Insgesamt gesehen kann eine Öffnung für theoretische Angebote – beispielsweise aus dem Kontext der "Netzwerk"-Debatten oder des Diskurses über Interdependenz – nicht schaden. Die abschreckenden Abspiele realitätsferner Theorieakrobatik aus der Politikwissenschaft oder Soziologie sind kein Einwand. Man kann es auch klüger, nämlich weniger selbstreferentiell, angehen.

F: Das Berliner Kolleg Kalter Krieg betont in seiner Forschungsagenda deutlich die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs und die Grenzen der Wirkungsmacht des Kalten Krieges. Laufen Historiker hier nicht auch Gefahr, ihren eigenen Forschungsgegenstand zu demontieren?

A: Im Gegenteil. Der Blick auf Grenzen, auf Durchlässiges und Poröses schärft den Blick für den Gegenstand und für seinen historischen Ort. Wenn es gelingt, das Widersprüchliche, Kontingente und Gegenläufige zu erfassen, wird die Gesamtschau nicht nur facettenreicher. Auf diese Weise leistet man auch einen Beitrag zum besseren Verständnis des abrupten, wenn nicht unwahrscheinlichen Endes des Kalten Krieges. Dessen überwiegend friedliches Abtreten bliebe andernfalls dauerhaft ein Rätsel.

F: Welche neuen Impulse für die Geschichtswissenschaft, aber auch für andere Disziplinen, könnte in den nächsten Jahren von den Cold War Studies ausgehen? In welche Richtung werden sich die Cold War Studies entwickeln?

A: Wie genau die Entwicklung verlaufen wird, lässt sich kaum prognostizieren. Die Frage ist eher, was wünschenswert wäre. In jedem Fall bietet der Kalte Krieg das Material zu einer integrativen Globalgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diesbezüglich stehen wir, zurückhaltend formuliert, erst am Anfang. Eine solche Bilanz zu ziehen, liefe zugleich auf einen differenzierten Umgang mit historischen Hinterlassenschaften hinaus – genauer gesagt mit der Frage, welche Dynamiken sich erschöpft haben und welche in verändertem Gewand bis heute nachwirken. Davon kann eine Debatte über "failed states" in der Dritten Welt ebenso profitieren wie der Versuch, sich ein Bild von der psycho-sozialen Ausstattung hegemonialer Aspiranten zu machen. Nehmen sie China als Beispiel: Die mentalen und psychischen Verheerungen des "großen Sprungs nach vorne" oder der Kulturrevolution, beide ursächlich mit dem Kalten Krieg verbunden, wirken bis heute nach. Eine historisch uninformierte Diskussion über die Zukunft dieses Landes läuft deshalb von vornherein ins Leere. Nicht zuletzt waren während des Kalten Krieges militärische Interventionen an der Tagesordnung. Der heutige Streit über "nation building", "humanitäres Eingreifen" oder "Terrorbekämpfung" würde vermutlich auf besserem Niveau geführt, wenn man mehr über die damals gemachten Erfahrungen und insbesondere über die Folgen für intervenierte Staaten wüsste. In anderen Worten: Die "Cold War Studies" könnten das bekannte, aber oft in Vergessenheit geratene Desiderat in Erinnerung rufen, dass Zeitgeschichte nicht nur Streitgeschichte sein sollte. Sondern dass sie es sein muss.

Das Interview führte Dr. Klaas Voß

Im nächsten Teil der Reihe am 20. Juni 2016: Dr. Svetlana Savranskaya, Senior Research Fellow am National Security Archive der George Washington University (Washington, DC, USA)

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