Tagung veranstaltet am 14. und 15. Juni 2013 an der Humboldt-Universität zu Berlin
Julia Gasser
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
07. April 2014

Das Deutsche Komitee für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges hat seine Jahrestagung 2013 unter den Titel "Raum. Neue Ansätze für die Erforschung von Militär, Krieg und Gewalt in der Neuzeit" gestellt. Das Emporheben des "Raumes" auf die Ebene der primär zu berücksichtigen Einflussfaktoren innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung, versprach eine Vielzahl von neuen Ansätzen. Unterstützt wurde dies durch den Versuch der reflektierten Darstellung des Raums in den unterschiedlichen analytischen, theoretischen und methodischen Ansätzen.

Bereits in der Einführung durch CHRISTOPH NÜBEL (Berlin), der zusammen mit PETER LIEB (Sandhurst) die Tagung organisierte, wurden die unterschiedlichen Kategorisierungen des Raumes betont. Dieser kann demnach verstanden werden als physisch-geografischer Raum, als Raumordnung und –praktik, als Phänomen des "Raummachens" und schließlich als Raumwahrnehmung und –deutung. Insgesamt seien all diese Kategorisierungen mit einem weiteren entscheidenden Faktor, nämlich der Zeit eng verknüpft, so Nübel. Diesem Zusammenhang, wurde folglich innerhalb der Tagung eine zentrale Rolle zugemessen.

Das erste Tagungspanel unter der Leitung von BIRGIT ASCHMANN (Berlin) stand unter dem Titel "Räume in der militärischen Wahrnehmung". Dabei wurde der Versuch unternommen, eine breite chronologische Abhandlung vorzulegen, die vom spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808) bis zur Gegenwart reichte. KARIN BRÖSICKE (Rostock) stellte zu Beginn ihre Ergebnisse der Untersuchung soldatischer Raumerfahrungen im spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808) vor. Anhand von Selbstzeugnissen beschrieb Brösicke die Kriegsteilnehmer, aus den unterschiedlichsten europäischen Staaten stammend, als Wissens- und Kulturvermittler für ihre Heimatländer. Die Wandlung der Wahrnehmung des Landes durch die Autoren von Reise- und Erlebnisberichten werde, so Brösicke, durch die jeweilige emotionale Lage derjenigen subjektiviert und sei somit aus einer quellenkritischen Perspektive zu interpretieren. Eine Aussparung in der Darstellung von kriegerischen Handlungen und deren Einfluss auf die Landschaft und Kultur des Landes wurde von ihr auf Grund der primären Darlegung der Kulturvermittlung als zu vernachlässigend hingenommen. Brösicke kam zu dem Ergebnis, dass Krieg auch als Kultur- und Wissensvermittler fungiere und diese Funktion zeitübergreifend beibehalte. Bei der Kreation von Fremd- und Raumbildern, ebenso wie dem Kulturaustausch auf mehreren Ebenen, wirkten die Soldaten als Aggregatoren dieses Transfers, wie Brösicke abschließend feststellte. AXEL ZUTZ (Berlin) widmete sich in seinem Vortrag der Landschaftsarchitektur während des Zweiten Weltkrieges im von der Wehrmacht besetzten Raum. Im Fokus seiner Betrachtung standen die Aufgabe und das Vorgehen der sogenannten "Landschaftsanwälte". Zutz verwies darauf, dass die Landschaft dem rein militärischen Nutzen angepasst wurde. Zivilisatorisch dagegen seien speziell die im Osten annektierten Gebiete, als "Leerraum" angesehen worden. MARC HANSEN (Flensburg) schloss mit seinem Beitrag zum Wahrnehmungs- und Deutungsraum der Schlacht durch den deutschen Soldaten das erste Panel. Eine Schlacht sei, in der von Hansen gewählten Perspektive, als der Rahmen von situativ erfahrener und gleichzeitig ausgeübter extremer Gewalt definiert. Hansen vertrat dabei die Position, dass der Wahrnehmungsraum für Soldaten innerhalb einer Schlacht als universell zu verstehen sei und somit ein Vergleich zwischen Soldaten auch in unterschiedlichen zeitlichen Ebenen ermöglicht werde, konkret in der Gegenüberstellung von Bundeswehr- und Wehrmachtssoldaten. Dabei wirke die situative Ebene der Schlacht intensiver auf den Soldaten ein, als die Prägung durch individuelle Sozialisation. Insbesondere stellte Hansen in seiner Untersuchung deutliche Überschneidung der Soldaten im Wahrnehmungsraum des Todes, des Tötens und des Kampfes fest. Substantiell variiert dabei lediglich die Intensität der angewandten Gewalt.

Das zweite Panel unter der Leitung von ROLF-DIETER MÜLLER (Potsdam) wandte sich dem Raum als Ort der Gewalt und deren Wahrnehmung zu. DIERK WALTERs (Hamburg) Überlegungen thematisierten dabei die Wahrnehmung des Raumes als "Feind" (Walter) in den europäischen Expansionskriegen. Die in der Peripherie der damals bekannten Welt verorteten Imperialkriege, seien für die Europäer Grenzerfahrungen gewesen. Die geografischen Maßstäbe der feindlichen Räume, ihre unerschlossene Infrastruktur und die, aus europäischer Sicht unterentwickelten ökonomischen Strukturen, stellten die imperiale Kriegsführung vor erhebliche Probleme. Die erprobten europäischen Kriegsstrategien erwiesen sich als nicht anwendbar, während Strategie und Taktik der indigenen Bevölkerung auf eben diesen Raum abgestimmt war. Dieses Ungleichgewicht habe in einer Vielzahl von Fällen zur Totalisierung des Vorgehens der Europäer geführt, so Walter. Dies beinhaltet die harsche Bekämpfung von Nicht-Kombattanten, sowie der Natur selbst. Eine entscheidende Rolle spielten die Faktoren Raum und Zeit auch in den Ausführungen von RÜDIGER OVERMANS (Freiburg). Sein Beitrag beschäftigte sich mit der Erforschung des Einflusses beider Faktoren auf die Überlebenschancen von Kriegsgefangenen an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg. Anhand empirisch ermittelter Daten wurde versucht einen Zusammenhang zwischen Ort und Zeitpunkt der Gefangennahme herzustellen. Der Faktor "Raum", i.e. der Einfluss des Ortes der Gefangennahme, ließe sich hierbei nicht als zentraler Überlebensfaktor verifizieren, so Overmans, da der Einfluss weiterer flexibler Faktoren unter Berücksichtigung des vorliegenden empirischen Datenmaterials nicht ausgeschlossen (aber auch nicht eindeutig nachgewiesen) werden könne.

Der Abendvortrag wurde von JÖRG BABEROWSKI (Berlin) gehalten. Er sprach über die Wahrnehmung und die Veränderung von Gewalt in unterschiedlichen Räumen. Das Verstehen und Interpretieren von Gewalt stelle für die beobachtende Gesellschaft eine Schwierigkeit dar, so Baberowski. Für den Täter selbst komme es durch die Ausübung von physischer Aggression zu einem Überlegenheits- und Machtgefühl, dies inkludiere die vorhergehende Überwindung der Angst vor der Konfrontation. Die entstehende "Dynamik der Gewalt" (Randall Collins) sei weder für Täter noch für Opfer kontrollierbar und lasse somit die Entwicklung innerhalb der entstandenen Handlungsräume offen, rekurrierte Baberowski.

Eine weitere weitreichende Thematik stellte den dritten Punkt des Tagungspanels unter der Leitung von RAINER SCHMIDT (Würzburg) dar: Der Raum in der militärischen Planung. Dazu referierte eingangs VOLKER MENDE (Cottbus) zur Bedeutung der Eisenbahnbrücken als militärstrategische Knotenpunkte vor 1918. Eine Vielzahl der entstandenen Eisenbahnbrücken, insbesondere an den Ost- und Westgrenzen des Reiches sei durch Wehrbauten verstärkt worden. Um die Jahrhundertwende habe sich der Gefechtswert der Wehrbauten verändert. Sie hätten nun nicht nur mehr der Abwehr durch Artillerie gedient, sondern wären auch mit Flugabwehrstützpunkten versehen worden. Die Relevanz der Eisenbahn und die damit erfolgende Beschleunigung, so Mende, machten deren Schutz unentbehrlich. Diese Schutzbauten wären im kontinuierlichen Maße auch auf Straßenwege und –brücken übertragen worden. Das Halten der Brücken wäre somit nicht nur ein militärstrategisch entscheidender Punkt gewesen. Die Brücken hätten auch die Bewegung innerhalb des Raumes aufrecht erhalten. Einen chronologischen Sprung vollzog BENEDICT VON BREMEN (Tübingen), als er auf die Standardisierung, Dislozierung und die Bedrohung im Kalten Krieg einging. Die Verteidigung des perzeptiv bedrohten geografischen Raumes hätte einen Krisenpunkt in der Geschichte des Bündnisses dargestellt. Die Probleme innerhalb des Bündnissystems hätten sich dabei auf zwei elementaren Ebenen angesiedelt: dem gedachten Raum, stellvertretend stehend für eine gerechte Lastenverteilung innerhalb der gemeinsamen Verteidigung des Bündnisgebietes und dem geografischen Raum, welcher die materielle Kontingentierung, die Mannstärke und die entsprechende Dislozierung innerhalb des Bündnisses beinhaltete. Als Verbindungsglied zwischen den beiden Raumproblemen sei, nach von Bremen, die fehlende Bereitschaft zur Rüstungskooperation anzusehen. FRANK REICHHERZER (Berlin) wies in seinen Ausführungen auf eine dynamische Vorstellung von Raum in der Wahrnehmung durch die Wehrwissenschaft seit den 1920er Jahren hin. Diese sei nicht als klassische wissenschaftliche Disziplin anzusehen, sondern verfolgte transdisziplinären Ansätze. Der Raum, innerhalb der Wehrwissenschaften, habe sich innerhalb des 20. Jahrhunderts zahlreichen Transformationen unterwerfen müssen. Insbesondere sein dabei die Entwicklung atomarer Waffensysteme und die Modifizierung des Schlachtfeldes zu einem "gesellschaftlich beherrschten" Raum, als Zäsuren zu nennen. Eine dritte Reformation in der Wahrnehmung und der Definierbarkeit habe das Cyber-Space erreicht. Dadurch habe der Raum eine neue nicht mehr fassbare Dimension erreicht.

Das vierte und letzte Panel der Jahrestagung stand unter der Leitung von SÖNKE NEITZEL (London) und fokussierte die Schlachtfelder. JOHN ZIMMERMANN (Potsdam) referierte über die erinnerungsgeschichtliche Instrumentalisierung der Schlacht von Tannenberg 1914. Zimmermann betonte eine Aneinanderreihung von militärischen Fehleinschätzungen, taktischen Zufällen und Befehlsverweigerungen befehlshabender Offiziere, die jenseits der späteren von und um Hindenburg konstruierten Meistererzählung zum hochstilisierten und mystifizierten Sieg bei Tannenberg beigetragen hätten. Die geschichtspolitische Instrumentalisierung der Schlacht von Tannenberg sollte darüber hinaus nicht alleine nur zur Festigung des nationalen Gedankens beitragen, sondern auch die zeitgleich erlittene Niederlage der deutschen Armee an der Westfront überdecken, so Zimmermann. Die Tagung schloss mit dem Vortrag von ADRIAN WETTSTEIN (Zürich), der über den Kampfraum Stadt in der deutschen Wehrmacht sprach. Die sich aus der mangelnden Vorbereitung ergebenden Probleme der Aufstellung der Kampfverbände im städtischen Kampfraum bestanden, so Wettstein, in der komplexen Topografie der Städte, der Versorgung mit Nachschub, sowie der Anwesenheit von ziviler Bevölkerung und der gesteigerten psychischen wie physischen Abnutzung bei den Soldaten.

"Im Raum lesen wir die Zeit". Das Zitat von Karl Schlögel stellt eine treffende Umschreibung der Bedeutung von Raum für die Geschichtswissenschaft dar. Zahlreiche Aspekte historischer Ereignisse lassen sich erst durch die Einbeziehung der Raumperspektive konkret interpretieren und hinsichtlich ihrer historisch bedingten Prämissen vertiefen. Dementsprechend versuchten die Organisatoren wie auch die Referenten der Tagung, den "Raum" als ein zentrales Element der historischen Analyse zu konkretisieren und hierbei einen Ansatz der interdisziplinären Betrachtung und Diskussion des "Raumbegriffes" zu entwickeln. Die hierzu erforderliche Notwendigkeit, gewohnte Perspektiven zu Gunsten einer verstärkten Betrachtung des "Raumes" abzulegen, konnte jedoch nicht in jeglicher Hinsicht überzeugend dargelegt werden. Verschiedene Diskussionsbeiträge sowie im Umfeld der Tagung gefallene Meinungsäußerungen vereinzelter Tagungsteilnehmer zeigten deutlich die nach wie vor bestehende Wirkmächtigkeit und Beharrungskraft bislang bewährter theoretischer Ansätze. Nichtsdestotrotz kann die Jahrestagung als ein gelungener Versuch erachtet werden, dafür zu werben, neue Denkansätze und Betrachtungsperspektiven in das Forscherrepertoire aufzunehmen.

Tagungsprogramm:

14. Juni 2013

Christoph Nübel (Berlin):  Begrüßung und Einführung

Panel 1:  Räume in der militärischen Wahrnehmung

Leitung:  Birgit Aschmann (Berlin)

Kathrin Brösicke (Rostock):  Raumerfahrung im spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808-1814)

Axel Zutz (Berlin):  "Die Geschichte unseres Vaterlandes stellt uns vor die Aufgabe, zum Schutze unserer völkischen Entwicklung geeignete Räume zu Wehrlandschaften zu gestalten." Anmerkungen zu einer Landschaftsarchitektur des Krieges

Marc Hansen (Flensburg):  " . . . als würden dazwischen keine 69 Jahre liegen!" – Deutsche Soldaten im Wahrnehmungs- und Deutungsraum der Schlacht. Eine kulturgeschichtliche Annäherung

Dorothee Brantz (Berlin):  Kommentar

Panel 2:  Gewalträume und Gewalterfahrungen

Leitung:  Rolf-Dieter Müller (Potsdam)

Dierk Walter (Hamburg):  "Indian Country": Der Raum als Feind in der Gewaltgeschichte der europäischen Expansion

Rüdiger Overmans (Freiburg):  Die Überlebenschancen von Kriegsgefangenen an der Ostfront während des Zweiten Weltkriegs in Abhängigkeit von Raum und Zeit

Stig Förster (Bern):  Kommentar

Abendvortrag  -  Jörg Baberowski (Berlin):  Räume der Gewalt

15. Juni 2013

Panel 3:  Räume in der militärischen Planung

Leitung:  Rainer Schmidt (Würzburg)

Volker Mende (Cottbus):  Das unbekannte Netz. Brücken als Knotenpunkte der Landesverteidigung im Deutschen Reich bis 1918

Benedikt von Bremen (Tübingen):  Standardisierung, Dislozierung und Bedrohung im Kalten Krieg: Die NATO und die central region in den 1970er Jahren

Frank Reichherzer (Berlin):  Der Raum in den Wehrwissenschaften

Gerhard P. Groß (Potsdam):  Kommentar

Panel 4:  Schlachtfelder

Leitung:  Sönke Neitzel (London)

John Zimmermann (Potsdam):  Von der operativen und erinnerungsgeschichtlichen Instrumentalisierung eines Raumes. Die Schlacht von Tannenberg 1914

Adrian Wettstein (Zürich):  Kampfraum Stadt in der deutschen Wehrmacht

Peter Lieb (Sandhurst):  Abschlussdiskussion und Zusammenfassung

 

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