Christian Senne
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
15. April 2013

Im Zuge der Expansion der überseeischen Besitzungen des Deutschen Kaiserreichs in Ostasien durch die Erwerbung von Kiautschou mit der Hafenstadt Tsingtau am 6. März 1898 erfüllte sich schließlich – nicht zuletzt in geographischer Hinsicht – die Deklaration Wilhelms II. anlässlich der Reichgründungsfeier 1896, dass aus dem Deutschen Reich ein „Weltreich“ geworden sei. Allerdings bedeutete in der Epoche des Navalismus der Anspruch „Weltmacht“ zu sein gleichzeitig auch die Notwendigkeit Seemacht werden zu müssen. Deshalb war die zeitliche Kongruenz zwischen dem Bülowschen Verlangen nach einem „Platz an der Sonne“ für das Kaiserreich und der Einbringung des ersten Tirpitzschen Flottengesetzes in den Reichstag am 6. Dezember 1897 kein Zufall.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachte für das Deutsche Kaiserreich somit die ultimative Bewährungsprobe, den Status der Welt- und Seemacht zu verteidigen. Die Chancen dieses Ziel auf dem ostasiatischen Kriegsschauplatz zu erreichen, standen nach dem Kriegseintritt Japans am 23. August 1914 und der folgerichtigen Eroberung Kiautschous durch japanische Truppen am 7. November 1914 denkbar schlecht. Die Anlage der strategischen Ausrichtung der kaiserlichen Seestreitkräfte hatte ohnehin im forcierten Einsatz der Hochseeflotte gegen die britische Grand Fleet in der Nordsee die kriegsentscheidende Aktion gesehen.

Der Führer des Ostasiengeschwaders Vizeadmiral Maximilian von Spee entschloss sich in dieser Situation, mit seinem Verband den Pazifik zu überqueren, Südamerika anzulaufen und schließlich den Durchbruch in den Atlantik zu versuchen, um nach Deutschland zu entkommen. Auf diesem Weg gelang es ihm zwar am 1. November 1914 bei Coronel einen Sieg über ein britisches Kreuzergeschwader zu erringen, aber bei den Falklandinseln wurde sein Geschwader am 8. Dezember 1914 von überlegenen britischen Schlachtkreuzern gestellt und versenkt. In der Folge standen der kaiserlichen Marine in Übersee nur noch einzelne Kreuzer oder Hilfskreuzer als Störer des alliierten Seehandelsverkehrs zur Verfügung.

In den vergangen Jahren hat das wissenschaftliche Interesse an den kriegerischen Ereignissen an der europäischen Peripherie und in den überseeischen Besitzungen der Kolonialmächte während des Ersten Weltkrieges merklich zugenommen. Mit seiner Dissertationsschrift „Die deutsche Seekriegsführung im Pazifik in den Jahren 1914 und 1915“ fügt der Historiker Andreas Leipold nun der wissenschaftlichen Analyse der globalen Dimension des Ersten Weltkrieges eine weitere Facette hinzu. Leipold betritt hierbei allerdings kein wissenschaftliches Neuland. Er kann sich vielmehr unter anderem auf die grundlegenden Arbeiten Erich Readers über den Kreuzerkrieg aus der Zwischenkriegszeit stützen.

Waren Raeders Studien dem Zeitgeist entsprechend noch dem rein operationsgeschichtlichen und zudem applikatorischen Ansatz verhaften, so liegt die Qualität Leipolds historischer Neubewertung der Operationen des deutschen Ostasiengeschwaders während des Ersten Weltkrieges in der Erweiterung des historischen Betrachtungsrahmens: So gelingt es Leipold im Sinne moderner Militärgeschichte, die Ereignisgeschichte mit mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen sowie Überlegungen zum Marinenachrichtendienst und der Organisation des Versorgungswesens zu verknüpfen. Ferner ist es dem Autor ein Anliegen, dem bekannten Diktum von Rainer Wohlfeil, dass im Mittelpunkt der Militärgeschichte der Mensch bzw. der Soldat stehen solle, zu folgen und auch die menschliche Dimension des Seekrieges im Pazifik zu Beginn des Ersten Weltkrieges aufzuzeigen.

An diesen zuvor genannten Prämissen orientiert sich auch der Aufbau der vorliegenden Arbeit: Einleitend zeichnet Leipold knapp die historische Genese des deutschen Ostasiengeschwaders, von der Erwerbung des deutschen Schutzgebietes Kiautschou 1898 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, nach. Hierbei nimmt er auch die Zusammensetzung der Besatzungen der einzelnen Einheiten in den Blick. Die Grundlagen der deutschen Seekriegsführung im pazifischen Raum, die Leipold in der Versorgung mit nachrichtendienstlichen Informationen sowie in der Versorgung mit Proviant und Betriebsstoffen sieht, beschreibt er in einem weiteren Kapitel. Nachfolgend widmet er sich den diversen Operationsplanungen des Admiralstabs für den Kriegsfall im pazifischen Raum. Im Hauptteil der Arbeit analysiert Leipold die Operationen des Ostasiengeschwaders vom Transit über den Pazifik bis bin zu den Seegefechten bei Coronel und vor den Falkland Inseln. Der Vernichtung durch überlegene britische Kräfte während des Treffens vor den Falkland Inseln am 8. Dezember 1914 konnte lediglich der Kleine Kreuzer „Dresden“ entgehen. Aber auch die „Dresden“ wurde Mitte März 1915 vor der Küste Chiles von britischen Einheiten aufgespürt und schließlich von der eigenen Besatzung selbst versenkt. Die Flucht der „Dresden“ wird von Leipold abschließend ebenso betrachtet, wie die Kriegsgefangenschaft bzw. Internierung der deutschen Schiffsbesatzungen.

Leipolds Studie über die deutsche Seekriegsführung im Pazifik während der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges ist durch eine solide Verwendung des zugänglichen Quellenmaterials gekennzeichnet. Neben einschlägigen Quellen aus dem Freiburger Militärarchiv und dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde berücksichtigt er auch britische Archivalien aus den Beständen des Imperial War Museums in London.

Durch die Revision und Verifikation der vorliegenden Erkenntnisse zu den Operationen des Ostasiengeschwaders im Ersten Weltkrieg ist Leipolds Arbeit geeignet, das historische Verständnis für das globale Agieren der kaiserlichen Marine während des Ersten Weltkrieges wieder ein wenig besser nachvollziehen zu können. Die Stärken der Untersuchung liegen in der Betrachtung der Operationsplanungen des Admiralstabs für einen anzunehmenden Kriegsfall in Ostasien sowie in der Bewertung der Grundlagen für etwaige Aktionen des deutschen Ostasiengeschwaders – der Versorgung mit Material und nachrichtendienstlichen Informationen.

Allerdings hätte man sich für die Studie ein fachkundiges Lektorat gewünscht. Darüber hinaus trüben leider die doch recht profanen Einlassungen zur Zusammensetzung der Schiffsbesatzungen sowie zur Verleihungspraxis des „Eisernen Kreuzes“ nach dem Gefecht bei Coronel den grundsätzlich positiven Gesamteindruck der Studie etwas ein. Dennoch muss festgestellt werden, dass – auch wenn die Seekriegsführung des Ostasiengeschwaders vor dem Hintergrund des historischen Gesamtzusammenhangs der Kriegshandlungen zur See während des Ersten Weltkrieges ein Nebenkriegsschauplatz bleiben – die vorliegende Arbeit, zur genaueren historischen Einordung des komplexen Konfliktgeschehens des Ersten Weltkrieges, besonders aus maritimer Perspektive, einen wertvollen Beitrag leistet.